Politikfeld » Kultur
Kultur ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das Menschen über Beziehungen, Tätigkeiten, Gegenstände und unterschiedliche Kommunikationsweisen bezogen auf ihre Orientierungen, Emotionen, Empfindungen, Motivationen, Anschauungen („Welt- und Menschenbild“), Ideen, Vorstellungen sowie ihr Körper-Selbst-Bild und ihre Bewusstseinsentwicklung („Bewusstheit“) eingehen. Kultur ist damit sowohl ein Aspekt aller gesellschaftlichen Verhältnisse (vgl. Politikfeld „Gesellschaft“) und Verhaltensweisen als auch ein bestimmter, mehr oder weniger abgegrenzter Bereich von Institutionen, welche primär und unmittelbar kulturelle Bedürfnisse in der Gesellschaft produzieren und befriedigen (gesellschaftlicher Kulturbereich). Dazu zählen neben Rundfunk- und Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, Bücher, Theater, Kinos, Museen, Kultur- und Kunstzentren, Galerien, religiöse, spirituelle und Sportzentren und vor allem die unterschiedlichen Künste selbst, welche häufig mit Kultur identifiziert werden.
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Die unmittelbar auf die Sinne und die menschliche Wahrnehmung wirkende Sprach-, Bild-, Film-, Darstellungs-, Bewegungs-, Klang- und Medienkultur einschließlich Architektur, Werbung und Design sowie deren medialen wie institutionellen Träger beeinflussen direkt und primärfunktional die emotionale und geistige „Stimmung“ einer jeden Gesellschaft. Sie können die Menschen zu sich selbst, zueinander oder von sich wegführen, über sich selbst hinaus weisen oder in die Irre leiten bzw. gänzlich in Illusionen wiegen.
Die kulturellen Angebote entscheiden über Ästhetik oder Anästhesie, Ethik oder Moralismus, Kreation oder Kompensation, Eros oder Thanatos sowie über den Grad der Gegenwärtigkeit oder Täuschung von Selbst- und Weltwahrnehmung.
Mit der Entwicklung der interaktiven und vernetzten elektronischen Medien öffnen sich die dominant kosumtiv rezeptiven Kulturverhältnisse in Richtung von Interaktivität, Beteiligung und Multiperspektivität. Es entstehen nicht nur neue Kommunikations-, Gestaltungs- und Wahrnehmungsweisen, sondern qualitativ neue kulturelle wie ökonomische Verhältnisse der Co-Produktion-, des Austauschs und der Aneignung.
Nicht nur die kollaborative Herstellung der Software Linux oder die kollektive Wissensplattform Wikipedia, sondern auch die mit dem so genannten web 2.0 entstandenen Potenziale von „Social Software“ und „Social Political Network“ können – bei aller Abhängigkeit von Netzmonopolen und Tendenzen der „Fragmentierung“ (Jürgen Habermas) – als Elemente einer neuartigen Kommunikationskultur verstanden werden. Nicht das Streben nach egomanischer Hyperpräsenz, Besitzstandswahrung, Manipulation und Profit, sondern der persönlich motivierte soziale Beitrag, der Austausch von Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen bildet die qualitativ neue Basis auch für eine neue politische Kultur (vgl. VIPA Konzept/VIPA Tehorie).
Gleichzeitig unterliegen die neuen Computer- und Netztechnologien privatistischen ökonomischen Verwertungsinteressen und bilden für die "Kulturinstustrie" (Adorno) eine nicht unwesentliche Profitquelle. Auch verführt die weltweite digitale Vernetzung zu einer symbolischen Akkumulation der "Geldwirtschaft" losgelöst von der noch existierenden realen medialen ökonomischen Vermittlungfunktion des Geldes. Damit nehmen die "Geldinstitute" zunehmend den Charakter von "Spielhöllen" an, in denen kulturelle Sinndefizite quaipatologisch abgearbeitet werden. Insofern steht die Frage, ob die Geldinstitute und die Spekulationswirtschaft nicht eher Elemente einer deformierten Spätkultur als Elemente einer funktionalen Ökonomie darstellen.
In der Politik der Bundesrepublik Deutschland erscheint heute „Kultur“ als ein mehr oder weniger geduldetes Ressort, das der Hoheit von Ländern und Kommunen zugeordnet, also kein Gegenstand nationaler Politik ist. Das hat einerseits seine historischen Wurzeln in der Zerschlagung des zentralistischen Kultursystems des Nationalsozialismus und findet andererseits zugleich eine Verstärkung durch die generelle Unterschätzung bzw. Vermarktung der Kultur im Kontext der neoliberalen Ökonomisierung der Gesellschaft.
Werden die Medien und Institutionen ihren differenzierten kulturellen Funktionen nicht gerecht, indem sie inadäquate oder manipulative Selbst- und Weltbilder produzieren bzw. das Kulturelle dominant als Ware ökonomisch verwerten, dann schwindet die geistige, kreative und kreatürliche Substanz der Gesellschaft. Friedrich Schiller (Über die ästhetischen Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen“) spricht in diesem Sinne von „Erschlaffung“ und „Verrohung“ der menschlichen Kräfte.
Die „Kulturwirtschaft“ oder „Kulturindustrie“ inklusive der Produktion von Computerspielen, Mode, Design, Verpackung, Werbung, Print- und Filmmedien gehört heute weltweit zu den größten und weiter expandierenden Wirtschaftszweigen. Letztlich offenbart die gesamte Medienentwicklung, besonders die stürmische Entwicklung der Computer-, Netz- und Telekommunikationstechnologien ein enormes kulturelles Potenzial, welches aber noch weitgehend dem wirtschaftlichen Verkaufs- und Verwertungsinteressen unterworfen ist und von diesen quasi verdeckt wird. Die sich horizontal entfaltenden neuen Formen der Netzkommunikation und vernetzten Produktion haben das Potenzial eines zu sich selbst kommenden neuen Kulturbewusstseins des 21. Jahrhunderts.
Das wird auch Einfluss haben auf die Kultur der Politik, der Ökonomie, der Bildung und der menschlichen Beziehungen zur Welt. Kultur ist fremd- oder selbstbestimmte Modellierung der Wahrnehmung und als solche ein zentrales Feld politischer Wissens- und Entscheidungsgenerierung im Rahmen des Virtuellen Parlaments. Wird der öffentlich rechtliche und private Rundfunk, werden die Presse, die Spiele- und Filmproduktion heutigen kulturellen Erfordernissen gerecht? Kann es der Politik egal sein, welche Menschen- und Weltbilder verbreitet werden - haupsache die Steuereinnahmen kommen? Was bieten die Schulen und Hochschulen, die staatlichen Kulturinstitutionen und die Wissenschaften bezüglich ihrer kulturellen Funktion in der Gesellschaft? Ist die herrschende Politik auch deshalb auf meist quantitative ökonomische Werte („Bruttosozialprodukt“) fixiert, weil sie den Bezug zur Kultur und zur menschlichen Bewusstseinsdimension verloren hat? Ist die Politik auch deshalb außer sich, weil sie den Bezug zu dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung, Sinn und Motivation verloren hat? Wie will eine Gesellschaft langfristig „dahinwirtschaften“ wenn sie orientierungslos, sinnlos und ohne inneren geistigen Antrieb ist? Hier befinden wir uns im Epizentrum der so laut beklagten Wertekrise, die eben nicht im Verlust von alten „Tugenden“ besteht, sondern auf einer systematischen und strukturellen Unfähigkeit beruht, die gewachsenen gigantischen Potentiale und Produktivkräfte als kulturelle Potenziale und Kräfte zu erkennen. Es geht um nichts Geringeres als um ein neues Verhältnis zwischen Gesellschafts- und Individualentwicklung, um die Ermöglichung von wesentlicher und nicht eingebildeter, egomanischer Individualität.
Klaus Nicolai
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